L E N I N

Die goldenen Zitronen, vielarmiger Octopus des deutschen Undergrounds haben ein neues Album gemacht. Die Band ist freier geworden, langsamer aber auch treibender und seltsamer. Momente seltener Schönheit, auch der vertrackte Intelligenzlerpunkrock der vorigen Platten  spielt noch seine Rolle, den Gesamteindruck prägt anderes, alte Synthesizer und Orgeln z.B. aber auch mäanderndes Zusammenspiel.

Die Platte heißt übrigens „Lenin“ nach jenem Mann, der die Politik als Avantgardist und Kader betrieb, die Massen mobilisierte, die Revolution machte, die Sowjetunion begründete, die revolutionären Künste unterstützte. Größer als Elvis, gewissermaßen, nur hat dessen Ableben das Betriebssystem Rock nicht grade abgeschafft, etwas, über das man sich im Falle von Lenin und dessen Betriebssystem Sozialismus streiten könnte. Zwar ist das „kurze Jahrhundert“ definiert durch jene Zeitspanne in der die Sowjetunion bestand (irrerweise etwas, das länger her zu sein scheint als die Veröffentlichung von Kraftwerk`s Radioaktivität), aber offensichtlich hat „Rock“ gesiegt und nicht etwa das “Kollektiv“, welches paradoxerweise in eben den Köpfen  aller freien Musiker (auch der Rockenden) immer einen festen Platz als Versuch gemeinsamen Produzierens haben wird. Seltsamerweise windet sich die freie Welt seitdem ihr Antipode tot, perdu, vergessen ist, in Krämpfen; scheint das Reich der Freiheit (die Kunst, so to speak) doch ein Reich der Beliebigkeit zu sein. Hier liegt der Fuchs im Huhn begraben, es ist die Frage nach der eigenen Rolle und der eigenen Sprache welche die G:Z: umtreibt: das beschreiben der Wirklichkeit, die politischen und sozialen Veränderungen von den Rändern Europas eindringend bis in den eigenen Mikrokosmos ist die Absicht. Ein harmoniesierendes Wir-Gefühl findet dabei nicht statt, ein „wir hier unten, ihr da oben“ auch nicht; und gerade ihre Verzahntheit in alle sozialen Formen künstlerischer Produktion, das direkte und indirekte Beteiligtsein in Techno, Theater, politischem Aktivismus, Soloprojekten, auf Rock- und auf Hochzeitsbühnen macht sie zu geeigneten Beobachtern ihrer eigenen Verwickeltheit ins öde Getriebe der Republik.

Die Chuzpe, sich und den eigenen Freunden im Gekungel und Geklingel mit den Repräsentanten von Eliten- und Parisbarkultur ein Lied aus theatralem Krautrock zu singen, muss man erstmal haben. Ansonsten: die Beschäftigung mit den Werken anderer, ein Lied über die Dämonen des jüngst verstorbenen Wesley Willis und dessen Amerika, eine sehr nagende Coverversion (mit Melissa Logan von C.O.S.) der in den 60Ös durch Deutschland tourenden Monks, eine frühe und kultisch verehrte Anti-Beatband, bestehend aus US Armee Soldaten. Der titelgebende Song “Lenin“ basiert auf einer Komposition Eislers nach einem Text des Revolutionsdichters und Künstlers Majakowski, der Text auf einem Besuch des erbärmlichen Kadavers im Lenin- Mausoleum in Moskau, wunderschönes Stück, seltsam aber so steht es geschrieben.

Ausserdem: die Bilder, Gedanken, Assoziationen, Schnipsel und Fragmente von Geräuschen, das Verlorensein in der Provinz ohne Mobilfunknetz, 1000 Stimmen, die unsere Ich’s durchziehen, keine Nachdenklichkeit in der 2zimmerwohnung mit Kätzchen auf dem Fenstersims, eher 40 getötete junge Männer in Bagdad und mit dem Bürgermeister auf dem Tocotronic Konzert. Das schlechte Gewissen. Pink Floyd goes New Wave, again. Der Versuch möglichst viele Facetten zu erfassen, das Comeback der Klassengesellschaft und des Dieners in Livree, das Scheitern derer die gerne in diesen Livrees stecken würden am Scheissmittelmeer und die eigene Verwirrtheit. Diese Verwirrtheit, die zu tollen und verwirrenden Songs führt, in denen trotz zerschreddertem expressionistischen Rumgeschreies und Genuschels eines klar wird: die Sehnsucht nach einem klaren Gedanken und Musik, die man endlich mal wieder nicht mitsingen kann.

gez.Boris Pilnjak

Die Goldenen Zitronen |ÖLENIN (2006)

Lenin

2006


Label: Buback Tonträger

Vertrieb: INDIGO / IXTULUH (Österreich) / REC REC (Schweiz)


» Texte zu LENIN (PDF)